Laufen in Tongling (6)
Ich war nun seit ungefähr 40 Minuten unterwegs. Unglaublich, was sich in dieser kurzen Zeit alles erleben lässt, wenn man sich nur ausreichend den Anschein gab, ein Ausländer zu sein.
Über mehrere kleine Brücken gelangte ich zu einem eher ernüchternden Freizeitpark, dem irgendwann während seiner Existenz der Spaßfaktor abhanden gekommen sein musste. Das Karussell drehte quietschend seine Runden, die Schwingschaukel knirschend ihre Bahnen und trotzdem war der Freizeitpark gerammelt voll.
Es war schwierig, sich durch die Menschenmenge zu schlängeln. Erfreulicher Weise aber tauchte am Wegrand zwischen Weg und Wiese ein überwiegend freier Streifen auf, auf den ich sogleich hinsteuerte. Ein Chinese fixierte mich mit starrem Blick, den ich aufgrund vorheriger Erlebnisse als den üblichen Schockzustand im Angesicht eines joggenden Lao Wai deutete und dann..., ja dann machte er einen raschen Schritt zur Seite und blockierte, triumphierend, wie ich ihm verbittert unterstellen möchte, die freie Lücke. Fast hätte ich den kleinen Spießer über den Haufen gerannt. Verflixt... ich hätte es tun sollen. Stattdessen siegten meine antrainierten Reflexe (oder war es einfach die kulturell antrainierte Rücksichtnahme?) und ich drehte mich mitten im Lauf zur Seite, so dass ich durch die enge Lücke zwischen meinem Herausforderer und einem unbescholtenen Passanten passte, wobei ich beide leicht streifte. Die unglaubliche Rücksichtslosigkeit, die gnadenlose Ellbogentaktik, die hier verstärkt zelebriert wird, geht mir nicht erst seit heute auf die Nerven.
So wird man beispielsweise im Lonely Planet (einem Reiseführer) informiert, chinesische Männer seien keine Machos. Aber oho! Da hat jemand grundverschiedene Erfahrungen gemacht. Ich jedenfalls habe hier keine Männer gesehen, die ihren Frauen mal die Tür aufhalten würden, übermäßig nett zu ihnen wären oder helfen täten, wenn sie selbst im Zug einen Essbecher umgestoßen haben und ihre „Liebste“ verzweifelt versucht, sich bei den gegenübersitzenden Fahrgästen zu entschuldigen und dabei gleichzeitig das Malheur zu beseitigen, das sich über Sitze und Kleider ausgebreitet hat. Der „Liebste“ steht unbeteiligt daneben (selbstverständlich ist er aufgestanden, damit sich seine Hose nicht voll saugt) und betrachtet mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht ihre Bemühungen. Sobald alles geregelt ist, setzt er sich wieder hin und blättert in einer Autozeitschrift, mürrisch alle ihre Versuche abwürgend, ein Gespräch zu beginnen. Noch keine dreißig und bereits unverbesserlich.